Chevalier
Leo - félicitations!
Seit dem 3. Juni 1944 ist Gerhard Leos Leben nur noch ein »Nachschlag«.
Einer, der nun schon sehr lange dauert
Von Christina Matte
Es dürften nicht viele Deutsche sein, die von sich behaupten können,
Mitglied der Ehrenlegion zu sein. Gerhard Leo darf das seit letztem
Dienstag. Im Berliner Café Sybille ernannte ihn Abel Farnoux, Großoffizier
der Ehrenlegion und eigens aus Paris angereist, zum Chevalier de la Légion
d'honneur. Auch von der Zeitung, die seiner Feder bis in die 80er Jahre
hinein glänzende Publizistik verdankte, eine Umarmung und herzlichen
Glückwunsch.
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Über Gerhard Leos Leben ist oft und viel geschrieben worden. Am besten
freilich von ihm selbst: In seinem zuverlässig klaren,
bescheiden-unpathetischen Stil schildert er in »Frühzug nach Toulouse«,
einem autobiografischen Buch, was ihn als 19-Jährigen in die Résistance
führte, was er erlebte, was ihm widerfuhr. So brauchte sich die Reporterin
eigentlich nur zu bedienen aus gedruckter Fakten- und Gedankenfülle, und sie
wird auch nicht umhinkommen. Denn was immer gedruckt wurde, ist nicht ja
zwangsläufig das, was wir wissen.
Wer weiß schon, dass 1927 der noch kaum bekannte Joseph Goebbels wegen
Verleumdung verurteilt wurde? Er hatte öffentlich behauptet, sein häufig
karikierter Klumpfuß habe patriotischen Ursprung: Im französisch besetzten
Köln sei er 1923 in Gegenwart des Generals, der die Truppen kommenadierte,
inhaftiert und gefoltert worden. Und wer weiß schon, dass Gerhard Leos
Vater, der jüdische Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Leo, die Klage des Generals
vertrat und lückenlos beweisen konnte, dass der spätere Propagandaminister
nie inhaftiert und gefoltert worden war, sondern schon mit dem Klumpfuß zur
Welt kam? Weshalb sich Goebbels später rächte: Gleich in der Nacht nach dem
Reichstagsbrand ließ er Dr. Wilhelm Leo von SA-Leuten blutig schlagen und in
das KZ in Oranienburg bringen. Nur auf Fürsprache Ernst Wiecherts, eines den
Nazis zunächst genehmen Autors, der später selbst Buchenwald durchlebte,
wurde er vorläufig entlassen. Gerhard Leo, zehn Jahre alt, flüchtete mit
seinen Eltern über die belgische Grenze nach Frankreich.
Episode an Episode: der kleine Buchladen in Paris, den der Vater eröffnete.
Anna Seghers, Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger lasen in
den bescheidenen Räumen, die schon bald ein Ort der Begegnung deutscher
Emigranten wurden. Der kleine unglückliche Junge, dem die Rheinsberger
Freunde fehlten. Die Pariser Kinder konnte und wollte er wohl nicht
verstehen. Selbst als er an Diphtherie erkrankte, blieb er im Krankenhaus
traurig und einsam, bis ihm eine junge französische Ärztin, eine »Frau von
außergewöhnlicher Schönheit«, in die er sich heftig verliebte, jeden Tag vor
ihrem Dienst eine Stunde widmete, um ihn in Französisch zu unterrichten. So
dass er nach drei Monaten, als er das Krankenhaus verließ, genauso gut
Französisch sprach wie französische Altersgefährten.
Episoden? Im Nachhinein fehlt ihnen das Beiläufige. Doch ist es nicht immer
das Beiläufige, das irgendwann an Gewicht gewinnt, das Leben in eine Bahn
bringt?
1943 sitzt Leo im besetzten Frankreich im überfüllten Zug nach Toulouse.
Dort hatte eine Gruppe deutscher Kommunisten, viele Spanienkämpfer darunter,
ihre Arbeit im Auftrag der französischen Résistance aufgenommen. Er ist 19
Jahre alt, auf seinem gefälschten Ausweis allerdings zwei Jahre jünger. Laut
Ausweis ist er auch Franzose, sein Name: Gérard Laban. Er wird viele Namen
tragen: Gérard Lebert, Adrien Pouzargues, Jean-Pierre Ariège, Le Rescapé,
Papa Leo - doch davon später. Im Zug nach Toulouse fährt er seinem ersten
Einsatz für das Comité »Allemagne Libre« (Freies Deutschland für den Westen)
entgegen.
Das deutsche Arbeitsamt vermittelt den vermeintlichen Sohn einer Elsässerin
in die Transportkommandantur der Wehrmacht. Dort arbeitet er als Übersetzer.
Und kann Informationen über Eisenbahntransporte für die Alliierten
zusammentragen, einen unbekannten Gefährten, der verhaftet werden soll,
warnen und ihm so das Leben retten. Als ihm selbst die Verhaftung droht,
erfährt auch er Solidarität - von einem Wehrmachtsangehörigen.
Er kann sich nach Castres absetzen. Dort verteilt er Flugblätter, versucht,
deutsche Soldaten und Offiziere für die Résistance zu gewinnen. Einer verrät
ihn. Er wird verhaftet, misshandelt und wegen Wehrmachtszersetzung vor das
Kriegsgericht in Toulouse gestellt, das ihn des Hochverrats bezichtigt,
worauf die Todesstrafe steht. Wieder findet er Unterstützung: Sein
Offizialverteidiger bewirkt, um Zeit zu gewinnen, dass sein Fall an das
Oberste Kriegsgericht nach Paris überwiesen wird. Und nicht nur sein Fall,
auch Leo selbst.
3. Juni 1944. Am Bahnhof der Kleinstadt Allassac bleibt der Zug, in dem
Gerhard Leo, bewacht von fünf Feldgendarmen und einem brüllenden
Hauptfeldwebel, nach Paris überstellt werden soll, plötzlich auf den Gleisen
stehen. Noch weiß keiner von ihnen, dass die Kämpfer der Armee
Francs-Tireurs et Partisans hier dieser Tage verstärkt operieren. 150
Partisanen hatten sich in Allassac der Waffen der Gendarmerie bemächtigt und
für die daraufhin zu erwartenden Einheiten der deutschen Besatzer einen
Hinterhalt gelegt. So hatten sie die Strecke gesprengt, weshalb der Zug nun
am Bahnhof stand und Leo befreit werden konnte. Als »Le Rescapé«, der
Gerettete, schloss er sich dem Kampf des Maquis an...
Hier sei zunächst ein Punkt gesetzt. In Leos ganzem späteren Leben wird es
keine Zeit geben, die jener frühen Zeit vergleichbar, von ihr loszulösen
wäre. Er selbst wird alles Spätere lediglich als »Nachschlag« empfinden. Die
pergamentene Haut um seine Augen kräuselt sich in einem Lächeln: »Ein
Nachschlag, der nun schon sehr lange dauert.« Leo ist mittlerweile 80.
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Schulen, in Deutschland wie in Frankreich, laden Gerhard Leo gern ein. Im
Berliner Collège Français, dem Französischen Gymnasium zwischen
Kurfürstenstraße und Lützowufer, erwartet man ihn zum ersten Mal. Es ist die
zweite Februarwoche, nur Tage vor seiner Auszeichnung: In der Aula soll er
vor 9. Klassen im Rahmen des Geschichtsunterrichts über sein Leben, seinen
Kampf in der Résistance berichten. Die Schüler haben sich versammelt, neben
mir ein Junge aus der 12., »man muss nicht in der 9. sein«, sagt er, »wer
sich interessiert, darf teilnehmen«.
Leo tritt ein. Ein würdiger, eher kleiner Herr im Anzug - so erinnere ich
mich an ihn, so ist er mir gelegentlich auf den Fluren des »Neuen
Deutschland« begegnet, für das er als Korrespondent - natürlich in
Frankreich - arbeitete. An mich, damals noch Anfängerin, erinnert er sich
sicher nicht: Man näherte sich ihm nicht einfach so, dazu hatte man zu viel
Respekt. Und mit respektvollem Applaus wird »Le Rescapé« auch jetzt begrüßt.
Und doch hat Gerhard Leo so gar nichts von den alten strengen Männern mit
der Nummer auf dem Arm, die ich aus meiner Schulzeit kenne. Über die
Leinwand flimmert ein Film, den das Deutsch-Französische Jugendwerk drehte
und mit dem er stets versucht, sein junges Publikum einzustimmen. Der alte
kultivierte Mann, der sich an Originalschauplätzen an seine Erlebnisse
erinnert, mit Freunden und Kampfgefährten plaudert, ist von
außergewöhnlicher Freundlichkeit, Milde. Ich frage mich, ob ein »Geretteter«
nicht glücklicher ist als derjenige, der als »Retter« zurückkehrte. Er darf
Dankbarkeit empfinden, statt sie einfordern zu müssen.
Was denken die Schüler während des Films, was über Leos erstaunliches Leben?
Die Ereignisse, um die es geht, liegen 60 Jahre zurück! 60 Jahre - wie
schlägt man da noch eine Brücke? Leos Leben: Immerhin umgibt es die Aura des
Abenteuers. Mut und Gefahr spielen eine Rolle, Tapferkeit, Geheimnis,
Freundschaft. Wie in Ken Follets »Die Leopardin«, nur dass hier alles sehr
real ist. Ein bewundernswertes Leben? Das liegt im Auge der Betrachter.
Nach dem Film stellen sie Fragen. Auf Französisch, in jener Sprache, in der
Leo auch antwortet - fließend, als sei es die Muttersprache, elegant, ohne
je die Stimme zu heben. Ein Schüler möchte von ihm wissen: Ist es seine
Hauptsprache? Leo sagt, ihm falle es leichter, französisch zu formulieren
als deutsch. Vielleicht, weil er nur die ersten Jahre auf einer deutschen
Schule verbrachte und seine französische Schulbildung dementsprechend
solider ausfiel. Doch ja, er habe einmal gelesen, die Hauptsprache eines
Menschen sei diejenige, in der er zählt und rechnet. Er zähle und rechne auf
Französisch.
Fühle er sich nun als Deutscher oder als Franzose?, fragt jemand. Eine
schwierige Frage, obwohl Gerhard Leo nach Kriegsende wieder in Deutschland
lebte. Für seinen Vater und für ihn habe immer festgestanden, dass sie in
Deutschland gebraucht würden. Sicher, seine deutschen Freunde würden bei
Gelegenheit sagen, er sei ja ein richtiger Franzose. Doch keiner seiner
französischen Freunde würde sagen: Du bist ein richtiger Deutscher.
Ein Schüler fragt, warum er als Deutscher gegen die eigenen Landsleute
kämpfte. Viele seien doch zwangseingezogen worden, vornehmlich gegen
Kriegsende, sein Großvater sei 16 gewesen! Leo entgegnet, er habe auch für
seine Landsleute gekämpft, von denen zig Tausende in KZs gepfercht wurden.
Und dass man Schuld natürlich nur individuell bemessen könne. Ohne Zweifel
seien es aber deutsche Wehrmachtssoldaten gewesen, die damals Polen
überfielen und das Gebiet Auschwitz sicherten, bevor dort das
Konzentrations- und Vernichtungslager errichtet wurde. Auch die
Kriegsverbrechen in Frankreich wären wohl nicht möglich gewesen, wenn
Wehrmachtssoldaten nicht zuvor das Territorium gesichert hätten. Der Enkel
solle den Großvater fragen, was er von diesen Verbrechen wusste und wo er
sich damals aufhielt...
Der Junge aus der 12. will wissen, was man unternehmen könne gegen
Rechtsextremismus und Neonazismus. Eine Lehrerin, Französin, erkundigt sich,
wie Gerhard Leo zu den Menschenrechtsverletzungen in der DDR stehe. Das ist
es dann auch fast gewesen.
Leo glaubt, dass es Schülern nicht leicht fällt, im Kreise von Mitschülern
Fragen zu stellen, weil sie fürchten, sich zu blamieren. Vielleicht sind sie
aber auch zu jung, tiefer in den Stoff einzudringen, der widersprüchlicher,
konfliktreicher bis in unsere Tage kaum sein könnte? Vielleicht bleiben
schwierige Fragen ja auch deshalb unausgesprochen, weil der französische
Blickwinkel, an der Schule geachtet, sie ausblendet? Zwar bröckelt der
Mythos der Résistance als nationaler Widerstand seit geraumer Zeit auch in
Frankreich, doch werden die vergleichsweise wenigen Kämpfer der Résistance
gerade deshalb hoch geehrt. Vielleicht hätten die Schüler sonst hinterfragt:
Sind Partisanen nicht Terroristen? Haben die Aktionen des Maquis nicht
Vergeltungsaktionen wie die in Tulle oder Oradour-sur-Glane provoziert? Wann
wird Widerstand zur Pflicht, Terrorismus legitim?
Vielleicht war die Veranstaltung aber auch einfach nur zu Ende.
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Was hat eine Zeit, was unsere nicht hat, dass sie ein ganzes Leben prägt?
Nach dem Krieg hatte sich Leo in Düsseldorf niedergelassen. War der Maquis
von der FKP dominiert, waren es Ideale sozialer Gleichheit, die man im
Maquis mit dem Frieden verband, so begann Leo nun seine Arbeit bei einer
KP-Zeitung. Als die nach Jahren des Verbots nicht wieder auf die Beine kam
und er seine Stelle verlor, siedelte er 1954 in die DDR über. Nein, vom
Misstrauen gegen Westemigranten habe er selbst nichts mehr gespürt. Wenn
doch, dann spricht er nicht darüber. Er wurde Leiter der Westabteilung des
Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, später kam er zum »Neuen
Deutschland«, wo er seine Tätigkeit auf Recherchen aus dem gemeinsamen
antifaschistischen Kampf von Deutschen und Franzosen konzentrierte.
Beispielsweise rekonstruierte er die Umstände, unter denen sein Freund und
Maquis-Gefährte Michael am 9. Juni 1944 in Uzerche ermordet wurde,
aufgehängt an einer Laterne. Und zwar auf Befehl und in Anwesenheit von
General Heinz Bernhard Lammerding, der auch für die Massaker in Tulle und
Oradour verantwortlich war, aber in Deutschland nie vor Gericht stand. Leo
ließ uns wissen, dass Lammerding 1971 als wohlhabender Bauunternehmer ruhig
in seinem eigenen Bett starb.
Heute legt er Zeugnis an Schulen ab, engagiert sich in seinem Alter noch in
der »Initiative gegen Abschiebehaft«. Im Abschiebegefängnis Berlin-Grünau,
wo er Häftlinge besucht, die, weil sie keine Papiere haben, bis zu
anderthalb Jahren eingesperrt bleiben, obwohl sie nichts verbrochen haben,
nennen sie ihn »Papa Leo«. »Man darf nicht dulden, dass eine Gruppe von
Menschen vom geltenden Recht ausgeschlossen wird. Eine Lehre aus der
Nazizeit«, sagt er.
Was hat eine Zeit, was unsere nicht hat, dass sie ein ganzes Leben prägt? Es
gibt Zeiten, in denen muss man sich entscheiden - für Würde oder
Niedertracht, Anpassung oder Widerstand. Und die Entscheidung hat
Konsequenzen - für Leben oder Tod, Krieg oder Frieden. Was wir heute tun -
ob wir nun dieser oder jener Partei angehören, ob wir zur Wahl gehen oder
nicht -, ist im Grunde unwichtig. Bedauerlich. Und doch: welch Glück.
(ND 21.02.04)
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