In Oradour-sur-Glane (Frankeich) wurde in den vergangenen Tagen der Zerstörung des Dorfs durch die SS gedacht. Die Verwaltung der Gemeinde hat sich geweigert offizielle deutsche Vertreter zu den Gedenkfeierlichkeiten einzuladen, und lud stattdessen junge Deutsche ein, die mit Veteranen der Résistance und deutschen Antifaschisten zusammentrafen. Die Fahrt wurde gemeinsam von DRAFD und ver.di-Berlin organisiert; darüber hinaus finanzierte die PDS-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch die Fahrt für drei junge Menschen, darunter auch André Keil, Sprecher des ['solid] Bundesarbeitskreises Antifaschismus.

Hier ein Bericht von der Fahrt:

 

Eine Reise gegen das Vergessen

 

Wer kennt heute in Deutschland den Namen Oradour? Wer weiß mit der Stadt Tulle etwas anzufangen? Ich wage die Prognose, dass es nur sehr Wenige sein werden. Dabei stehen diese Namen stellvertretend für den deutschen Terror in Frankreich während des 2. Weltkrieges. Nicht zuletzt um gegen das mangelnde Geschichtsbewusstsein und die grassierende Verdrängung der Geschichte des Nationalsozialismus entgegenzutreten machten wir uns auf den Weg nach Oradour.

Als erste Deutsche sollten wir an den Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Zerstörung von Oradour-sur- Glane teilnehmen. Dass es sich dabei um keine normale Reise handeln würde, war uns schon bewusst. Nur kaum einer von uns hätte gedacht, welches Politikum unsere Teilnahme darstellen würde. Im Vorfeld kam es zu heftigen, teils sehr emotionalen Debatten, das französische Fernsehen widmete der Debatte eine eigene Fernsehsendung und die lokalen und nationalen Medien widmeten uns größte Aufmerksamkeit, so dass unsere Reise von Anfang an im Spannungsfeld zwischen diplomatischer Mission und stillem Gedenken stand.

Am 9.6. nahmen wir in der Stadt Tulle an den Gedenkfeierlichkeiten zu Ehren der Opfer eines Massakers teil.... Am 9. 6. 1944 rückten Teile der SS- Division „Das Reich“ in Tulle ein und erhängten 99 männliche Geiseln an Fensterkreuzen der Stadt, aus Rache für einen erfolgreichen Angriff der Résistance auf die Garnison der Stadt. Während der Zeremonien wurden wir zwar nicht in öffentlichen Ablauf eingebunden, standen dennoch im Fokus. Wir trugen während der Prozession durch den Ort ein Gebinde mit der Aufschrift „Deutsche Antifaschisten“. Daraufhin kam ein alter Mann auf uns zu, und lief eine Zeit lang neben uns her. Er war sichtlich bewegt und aufgeregt, und wir wussten nicht recht wie sein Verhalten zu deuten war. Bis er schließlich auf uns zu kam, seinen Ärmel hoch schob und eine eintätowierte Nummer zum Vorschein kam. Er sagte nur ein Wort: „Auschwitz“, und drückte uns allen die Hand. Der Mann war den Tränen nahe, und kaum einer von uns wusste die Reaktion zu deuten. Waren es Tränen der Trauer, Tränen des Schmerzes oder Tränen darüber, dass nach 60 Jahren endlich eine Geste des anderen Deutschlands zu sehen war? Für mich war das das bewegendste Erlebnis der ganzen Reise, dass mir auch jetzt noch zu denken gibt.

Der nächste Tag in Oradour war sehr stark von symbolischen Gesten geprägt, so dass das Protokoll kaum Platz für individuelles und stilles Gedenken ließ. Erst gegen Abend war ein wenig Zeit, um sich die Dimensionen des Verbrechens in den zerstörten Ruinen von Oradour vor Augen zu führen. Die Ruhe des Ortes, die zerstörten Häuser, die Kirche in der Frauen und Kinder verbrannten, alles Eindrücke, die sicherlich nur erahnen lassen, wie das Dorf nach der Zerstörung ausgesehen haben muss. Unvorstellbar die Grausamkeit mit der die SS hier die Einwohner massakrierte und mit welcher Kaltblütigkeit sie ihre Verbrechen beging. Der Ort vermittelte eine wenn auch unzureichende Vorstellung von den Dimensionen der Verbrechen des deutschen Faschismus.

Am letzten Tag der Reise besuchten wir gemeinsam mit Madame Térèse Menoux das Museum der Résistance in Limoges. Diese eindrucksvolle kleine Frau berichtete uns von ihrem Schicksal. Sie wurde als 21jährige als Widerstandskämpferin in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt und nach einem Transport von tschechischen Partisanen befreit. Diese Frau die sich noch heute, in hohem Alter, gegen das Vergessen einsetzt und jedes Jahr mit französischen Schülern nach Deutschland fährt, um ihnen die Dimensionen der faschistischen Gewaltherrschaft vor Augen zu führen, begrüßte uns mit großer Herzlichkeit. Auch das war eine der weniger offiziellen Gesten, die aber gerade deshalb den größten Eindruck auf uns machte. Im Garten des Museums trafen wir mit jungen französischen Gewerkschaftern zusammen, mit denen wir über die Notwendigkeit antifaschistischen Engagements sprachen und uns über die Probleme von Rassismus und Ausgrenzung gerade in der Arbeitswelt austauschten.

Was besonders wichtig für uns war, waren vor allem die Gesten und Gespräche, die abseits der öffentlichen Veranstaltungen stattfanden. So waren die Gespräche mit den beiden deutschen Résistancekämpfern Gerhard Leo und Ernst Melis sehr starke und eindrucksvolle Erlebnisse, besonders als sie von ihren Erlebnissen aus der Zeit des Widerstandes in Frankreich berichteten. Auch das Zusammentreffen mit ehemaligen französischen Maquisards war bewegend. Ihre Offenheit, Freundlichkeit und Herzlichkeit mit der sie begrüßten waren mehr Zeugnis für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen als jede öffentliche Rede es hätte sein können.

Für mich persönlich war diese Reise eine riesige Inspiration. Das Beispiel von Menschen, die bereit waren für Freiheit und Menschlichkeit größte Opfer zu bringen, hat mich zutiefst beeindruckt. Und es hat mir vor allem gezeigt, dass ihr Opfer und das Opfer der hunderttausenden AntifaschistInnen, die in den Konzentrationlagern der Faschisten ums Leben gekommen sind nicht vergessen werden darf. Dass sie eine Mahnung an uns sind, dass Faschismus und Krieg die größten Verbrechen an der Menschheit sind, und dass wir verpflichtet sind alles dagegen zu tun.

In diesem Sinne:

Jamais le fascisme, jamais la guerre! Restons vigilants!

(Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Lasst uns wachsam bleiben!)

 

Geschrieben von André Keil am Di, 15. Juni 2004 - 20:37
 

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